Category: Politik

Erstens: Yes Men

Ich bin dieser Tage mal dazu gekommen, zwei Dokus anzusehen, die schon länger auf meiner Festplatte lagen. Dann sind noch ein paar andere Sachen dazu gekommen. Bevor ich die alle in einen Post packe, kommt das jetzt Stück für Stück.

Für andere Nachzügler_innen sei an dieser Stelle The Yes Men Fix The World empfohlen, eine Doku über die Aktivistengruppe, die politischen Aktivismus á la Adbusting auf die Spitze treiben. Der Film steht unter einer freien Lizenz.

Zum netzpolitischen Wochenende

Am Wochenende war die Freiheit statt Angst Demo in Berlin und ich nutzte die Gelegenheit, die Netzpolitische Soirée der Grünen Bundestagsfraktion zu besuchen. Der Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit in Schleswig Holstein Thilo Weichert, die Grüne Fraktionsvorsitzende Renate Künast und der amerikanische Autor, Blogger und Journalistikprofessor Jeff Jarvis (der hier über die Veranstaltung geschrieben hat) diskutierten über Netzpolitik, den Schutz der Privatsphäre und die Öffentlichkeit. Jeff Jarvis war sicher ein Grund dafür, warum sich dort so viele bekannte Gesichter einfanden. Gewohnt unterhaltsam sprach er wie schon auf der re:publica über seinen Penis und das Deutsche Paradox. Ein Plädoyer dafür, Öffentlichkeit als Wert gegen den Datenschutz zu verteidigten, dessen Fahne vor allem Thilo Weichert in der Runde hochhielt. Dieser wirkte dabei etwas unbeholfen kapitalismuskritisch (“Google hat doch nur Profit im Sinn!”), befand, dass man die Menschen aufklären muss und machte Werbung für den elektronischen Personalausweis und De-Mail.

“Bingo!” schallte es durch den vollbesetzten Raum in der Heinrich-Böll-Stiftung, als Renate Künast einmal einen Satz mit “Internet” und “kein rechtsfreier Raum” bildete. Ansonsten riss sie alle möglichen netzpolitischen Themen an, verwirrte mit einer indirekten Forderung nach staatlichen Souveniershops und es hätte ihrem Beitrag gut getan, wenn sie zumindest einige der Punkte etwas vertieft hätte.

Freiheit statt Angst 2010 - Wagen der Grünen
Grüne finden, dass verschiedene Akteure nicht alles wissen müssen.

Völlig ungeklärt scheint zum Beispiel die Forderung “Man muss auch anonym sein dürfen.” In welchem Fall, wem gegenüber und unter welchen Bedingungen? Meint Künast, dass es möglich sein muss, einen Service zu benutzen, ohne dass ein NutzerInneprofil angelegt wird? Geht es um Anonym sein in Foren, Chats oder als KommentatorIn? Den Leser_innen, Betreiber_innen, Provider_innen oder Behörden gegenüber? Soll die Impressumpflicht für Weblogs abgeschafft werden? Was hielte Künast als Teil der Exekutive davon, wenn ich beispielsweise per Tor dafür sorge, dass keine Rückschlüsse auf meine Identität gezogen werden können?

Diese Fragen zeigen schon, dass es nicht so einfach ist, die Möglichkeit der Anonymität in praktische Politik zu übersetzen. Daneben gibt es Themen wie Netzneutralität, die noch mal eine ganz andere technische Tiefe besitzen. Das spannende ist aber, dass in der Netzpolitik einige allgemeine Wertefragen für unsere Zeit verhandelt werden. Aus diesem Grund gehen der antikapitalistische Block und die jungen Liberalen gemeinsam auf die Straße. Netzpolitik bietet genug Raum, sich zu positionieren und in den Paradoxien Anknüpfungspunkte zu finden. Renate Künast hat Recht: Privat und Öffentlich lassen sich nicht mehr in den Grenzen von 1900 denken. Seit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches hat sich aber auch in dieser Hinsicht schon einiges geändert. Man denke nur an die Rechte des Ehemannes als Familienoberhaupt in der Familie – auch so ein geschützter Kernbereich der privaten Lebensgestaltung.

Künast sagt, dass sie die Diskussion mit der “Netzcommunity” anstrebt. Sie könnte auch sagen, dass sich die Grünen mit den politischen Kämpfen auseinandersetzen oder sich gar in diese einmischen wollen. Aber die Rhetorik des Kampfes ist weitestgehend verschwunden. Vorherrschend ist das Vokabular der Deliberation: Wir müssen reden. Wir müssen darüber diskutieren, was Privatsphäre und Öffentlichkeit heute bedeuten. Wir müssen einen Konsens finden, denn wir können nicht darauf hoffen, dass der Markt die optimale und effiziente Lösung findet. Der Markt ist die Alternative zu diesem Bild von Diskurs, bei dem Machtverhältnisse weder als Prämisse noch als Effekt benannt werden.

Die Grünen planen bis zu ihrem nächsten Bundesparteitag auf einer Reihe von Veranstaltungen Positionen zu erarbeiten und sich in diesem Feld deutlicher als bisher zu positionieren. Jenseits von verbraucherschützerischer Seifenblasenpolitik, die sich der Angst vor den Algorithmen von Google und Facebook bedient, könnte es dann zum Beispiel um Bürgerrechte und informationelle Selbstbestimmung für alle gehen. Auch für ALGII-Bezieher_innen und Asylbewerber_innen, die staatlicher Grenzüberschreitung in einem Maße ausgesetzt sind, die so manchem privilegisierteren Netzbewegten dystopisch anmuten. Es könnte auch um gesellschaftliche Teilhabechancen gehen, die durch das Internet eröffnet werden, nur leider nicht für jede_n. Ob man durch die Diskussion mit der “Netzcommunity” zu diesen Themen kommt, bleibt abzuwarten und hängt nicht zuletzt auch von der Netzbewegung selbst ab, die auch nach einer kleineren Freiheit statt Angst 2010 noch in der Lange ist, Themen zu setzen und Forderungen. Die Rede von Monty Cantsin auf der Abschlusskundgebung taugt dafür allemal.

Freiheit statt Angst 2010

Samstag 11. September 2010, 13 Uhr, Potsdamer Platz, Berlin

Im letzten Jahr war ich zum ersten Mal bei der Freiheit Statt Angst Demo in Berlin und staunte über die unzähligen Piraten und das Nebeneinander von schwarzem Block und Jungle Liberalen. Dieses Jahr freue ich mich auf den Streetview kritischen Foebud, gefolgt von Prügel Streetview.
Schließlich war die Frage nach Transparenz/Openness und/oder Datenschutz eine der interessantesten netzpolitischen (Meta-)Debatten des letzten Jahres. Es wird zu überprüfen sein, ob wir es hier mit einem Kampf potentieller leerer Signifikanten um den Platz der zentralen Forderung im Diskurs zu tun haben. Lesenswert dazu: Mspros Unterstützungspost für die Freiheit statt Angst-Demo.

Schillsche Tradition

Bei Anne Roth habe ich den Brandbrief von Hamburger Polizist_innen gefunden, der am 11. August in der Hamburger Morgenpost abgedruckt war. Zur Einordnung des Schreibens empfehle ich einige der letzten Ausgaben des Nachmittagsmagazins für subversive Unternehmungen beim Freien Sender Kombinat, von dem es einige Folgen online gibt: Ole von Beust: Der Geist von Schwarz-Grün ist in der Tiefe nicht ausreichend angekommen (vom 20.08.2010) und GAL Hamburg: Von einer Häutung zur nächsten Häutung (vom 18.08.2010).

Nach dem Wechsel an der Regierungsspitze analysiert das Nachmittagsmagazin die aktuelle politische Situation in Hamburg als Kontinuität von Schwarz-Schill unter grünem Mäntelchen: Dem nur vermeintlich liberalen von Beust (was ist liberal daran, mit einen Rechtspopulisten zu koalieren?) folge mit Ahlhaus ein ehemaliger Innensenator, der bisher als Hardliner bekannt war und sich in seiner Heidelberger Zeit für das Absingen des Deutschlandliedes mit allen Strophen auf dem Maifest von Burschenschaften eingesetzt habe. Schon damit deute sich an, dass die Hamburger CDU nach dem Ausscheiden Roland Kochs aus der Politik die Funktion der Hessischen CDU übernimmt und zukünftig vermehrt den rechten Rand bespielt (vgl. Michael Spreng, der sich heute zu diesbezüglichen Diskussionen in der Union äußert). Die Grünen machen mit und setzen auch den unhaltbaren Zuständen bei der Hamburger Polizei nichts entgegen, die sich in den letzten Jahren zu einer abgeschlossenen Organisation fern von demokratischer Kontrolle entwickeln scheint. Von Bürgerrechtspartei nicht die geringste Spur, die grünen Projekte (Moorburg, Elbvertiefung, Schulreform) sind durch die Bank gescheitert, nur die ökologische Erneuerung der Stadt schreitet voran, indem der Dung der neuen Reiterstaffel bald Planten und Bloomen begrünt.

In Sorge um die Polizei Hamburg

Wir äußern uns auf der Grundlage von mehrhundertjähriger Berufserfahrung in allen polizeilichen Funktionsbereichen, Dienstgraden und Laufbahnen der Polizei Hamburg.

Wir sind beschämt und bedauern, dass die derzeitigen Verhältnisse in der Polizei Hamburg es unzumutbar machen, unser Anliegen mit unserem Namen zu verbinden, weil Kritiker in dieser Polizei ihre Verwendung verlieren, ausgegrenzt und persönlich diffamiert werden.

Wenn es weder zu Nachdenklichkeit, zu Einsicht noch zu Selbstkritik – geschweige denn zu Änderungsbereitschaft – führt, wenn oberste Gerichte Entscheidungen und Handlungen der Behördenleitung und Polizeiführung mehrfach als verfassungswidrig bezeichnen (Videoüberwachung, Online-Durchsuchung, Kennzeichenlesegerät, Laufbahnverlaufsmodell) in Fortsetzung Schillscher Tradition mit einer Gewerkschaft und einem Berufsverband ein Kartell des Schweigens über Probleme der inneren Sicherheit und die Verfasstheit der Polizei besteht, in panischer Angst vor kritischer Berichterstattung der Medien kein Problem und kein Missstand intern mehr diskutiert wird und z.B. schwierige Großeinsätze aus dieser Angst heraus nicht mehr selbstkritisch nachbearbeitet werden, von Schill über Nagel bis Ahlhaus fragwürdige Machtkonzentration betrieben wird, die jede Form der kooperativen Führung zwar noch lehren lässt, sich aber nicht schämt, sie in der Polizei mit Füßen zu treten und Mitarbeiter und mittlere Vorgesetzte als widerspruchslose Befehlempfänger herabzuwürdigen, Amts- und Behördenleitung sich mehr Gedanken über die Beschaffung von Pferden, als über die Zukunftsfähigkeit der Polizei machen und nicht davor zurückschrecken, die Öffentlichkeit über die Kosten und die tatsächliche Nutzungsmöglichkeiten der Reiterstaffel zu täuschen, zu Zwecken der persönlichen Denkmalpflege ein Kriminalmuseum eingerichtet und ausgestattet werden soll, dass haushaltsrechtlich fraglich ist und mit den Sparzwängen im Haushalt nicht vereinbar ist, die Koalition die im Koalitionsvertrag vorgesehene Überprüfung der Schillschen/Nagelschen Organisationstrukturen dem parteipolitischen Machtgeschacher opfert, eine Regierungspartei die Polizei als ihr Eigentum betrachtet und behandelt und die andere Partei zwar über aber nicht mit der Polizei redet und im Übrigen keinen Anspruch auf Mitgestaltung erhebt, dann besteht Anlass zur Sorge um die Zukunftsfähigkeit der Polizei Hamburg, die Qualität der polizeilichen Arbeit und vor allem um die demokratische Werthaltung der Polizisten.

Wenn sich Bürger und Parlament nicht um diese Polizei kümmern, wird sie nicht so arbeiten, wie das von den Bürgern gewünscht wird und vom Gesetzgeber geboten ist. Wir warnen vor einem Rückfall in die Zustände der Zeit vor den siebziger Jahren und appellieren, die innerpolizeiliche demokratische Entwicklung der Folgejahre bis 2001 nicht weiter zu verspielen.

Ein Rant über Primarschule und Elterngeld

Bundesstipendien-Programm für die zukünftige Elite statt einer ordentlicher Bafög-Erhöhung alle Studierenden, die Bafög-berechtigt sind. Kein Elterngeld für Transferleistungsbezieher_innen, keine Primarschule in Hamburg. Mir wird ganz anders, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Wochen ansehe. Wenn hier eine die Verhältnisse zuspitzt, dann ist es die liberal/ökologisch/konservative Mittelschicht in ihren verschiedenen Figurationen. Abstiegsängste und Normalitätsvorstellungen führen zu immer ausschließenderen Investitionen ins eigene(!) Kind und in die eigenen Privilegien.

Die Herkunftseliten dünken sich Leistungseliten und schämen sich nicht zu behaupten “Ein Arbeiterkind kann vom Kind eines Vorstandsvorsitzenden profitieren, aber nicht umgekehrt, und das ist nicht zu verantworten!” Es sind aber nicht allein die Vorstandsvorsitzenden und der Blankeneser Geldadel, die sich erfolgreich gegen die Einführung der Primarschule in Hamburg eingesetzt haben. Es sind auch die netten jungen Akademikerfamilien aus Eimsbüttel, die beim Gespräch mit den Nachbar_innen im Bioladen nicht sagen würden, dass der Sarrazin ja auch irgendwo Recht hat oder dass sie mal Schill gewählt haben. Aber bei der Vorstellung, ihre eigenen Kinder könnten nicht nach vier Jahren in die Pforten des Gymnasiums unter ihresgleichen auf die Universität vorbereitet werden, kriegen sie Panik. Sie erzählen sich selbst und anderen, diese Reform sei einfach nicht gut vermittelt worden und man fürchte Chaos bei der Umstellung, das nicht gut ist für die Kinder. Sie fürchten aber auch um ihre Privilegien. Privilegien, von denen sie sich einbilden, sie alleine hart erarbeitet zu haben, als würden die Zugehörigkeit zur “Mehrheitsgesellschaft”, die Entscheidung für das normale Leben und die Herkunft, die eine akademische Ausbildung ermöglichte, keine Rolle dabei spielen.

Warum sollten sie auch ihre gesellschaftliche Position hinterfragen, wenn die Regierungen seit Jahren genau dieser elitären, neoliberalen Logik forciert? Eltern werden familienpolitisch seit knapp einem Jahrzehnt als Personen adressiert, deren Bedürfnisse am Besten mit Hilfe eines Opportunitätskostenmodells erfasst werden können. Das Grundprinzip des Elterngeldes ist bekanntermaßen der Lohnersatz für das Elternteil, welches zugunsten der Kinderbetreuung zwischenzeitlich aus dem Beruf aussteigt. Die Berechnung geht so: Zu welchem Preis leiste ich mir den Berufsausstieg? Was muss mir der Staat ersetzen, damit mein Lebensstandard in den Elternmonaten ungefähr gleich bleibt? Auf dieser Prämisse gebaut wurde das Elterngeld, gerne als “Wurfprämie” für Besserverdienende bezeichnet, ein schillernder Mix aus Neoliberalismus mit leichtem feministischen Einschlag (“Vätermonate”) und konservativen Spuren. Es geht nicht um ein ausreichendes Haushaltseinkommen für alle Familien mit kleinen Kindern, sondern um die individuelle Kosten-Nutzen-Rechnung. Die einzige Ausnahme hierbei ist auch nach allen Kürzungsvorschlägen der letzten Wochen die Alleinernährerfamilie. Für sie war das Elterngeld am wenigsten konsequent, denn, in real existierenden Klischees gesprochen: Die Hausfrau ohne eigenes Einkommen in den Monaten vor der Geburt erhält den Grundbetrag des Elterngeldes unabhängig vom Verdienst ihres Mannes. Die von ALG 2 lebende Alleinerziehende zukünftig nicht.

“Ist das Gerecht gegenüber denen, die arbeiten?” fragt sich nicht nur Christina Schröder und erhält dafür vermutlich Zustimmungen bei einigen, die sich sowieso für den “Zahlmeister der Nation” halten und nicht sehen, dass die Mittelschicht schon jetzt mehr aus dem Gemeinwesen bekommt als sie einzahlt. Es sind die Mittelschichtsfamilien, die öffentliche Einrichtungen wie Schwimmbäder, Theater und Bücherhallen nutzen und ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, wo der Unterricht pro Kind teurer ist als auf der Real- oder Hauptschule. Eigenverantwortung, Leistungsindividualismus und Refamiliarisierungstendenzen produzieren eine Stimmung, in der Leuten, denen es eigentlich ganz gut geht, Angst davor haben, dass “sozial Schwache” (als seien die es von Natur aus, als sei dies kein gesellschaftliches Verhältnis!) ihnen und ihrem Nachwuchs im Weg stehen beim Kampf gegen Prekarisierung.

Wollen und Dürfen

“Guido und Michael: Warum wir kein Kind wollen. Das verriet der Lebensgefährte von Viezekanzler Westerwelle” und ist in einem Artikel in der Hamburger Morgenpost vom 1. Juli nachzulesen. ((Die Aussagen stammen aus einem Interview in der Bunten, nachzulesen auch bei der Abendzeitung)) Als Powercouple sind der Sportmanager Michael Mronz und Guido Westerwelle, zurzeit Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, sehr eingespannt. Mir ihren besonderen Lebensumständen werden sie einem Kind nicht gerecht, und so nutzen sie die verbleibende Qualitätszeit lieber für die Pflege ihrer Beziehung und um Zeit mit Freunden zu verbringen.

Kein Wort darüber, dass homosexuelle Paare in Deutschland nicht das Recht haben, gemeinsam ein Kind zu adoptieren. Stiefkindadoption ja, gemeinsame Adoption eines Kindes nicht. Mronz oder Westerwelle, die nicht verpartnert sind, könnten es höchstens als Einzelpersonen versuchen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat derweil festgestellt, dass der Begriff “Familie” nicht auf heterosexuelle Paare zu beschränken sei. Das wäre doch mal ein Ansatzpunkt für die FDP. Aber vielleicht hat Westerwelle ja Lee Edelman gelesen.

SIGINT10 – Mit dem Blick zurück nach vorne

Die SIGINT ist eine vom Chaos Computer Club veranstaltete Konferenz, die am Pfingstwochenende zum zweiten Mal stattgefunden hat. Im Vergleich zum Chaos Communication Congress in Berlin hat die SIGINT einen stärkeren Fokus auf die gesellschaftspolitischen und philosophischen Fragen der Netzkultur. Die bestimmenden Themen waren wie erwartet Urheberrecht, Datenschutz, Überwachung im öffentlichen Raum und der 2011 anstehende Zensus.

Ob das Motto jetzt “Burn the land and boil the sea – You can’t take the sky from me” lautet oder es im Call for Papers heißt “the world of atoms and the world of bits operate on completely different levels.” – der Leitsatz des ersten SIGINT Tages war “Das ist doch jetzt auch nichts vollkommen Neues”. Genau dieser Satz kam in jedem der Vorträge, die ich mir am ersten Veranstaltungstag angesehen habe, auf. Die Netzdebatte hat sich weiterentwickelt. Hieß es bisher noch, dass “die Internetausdrucker” “unsere” Welt nicht verstehen, in der auf einmal alles anders sein wird, blickt man jetzt vermehrt zurück und versucht die Welt zu verstehen, in der und aus der sich Netzkultur, Netzpolitik und die Zukunft entwickeln. Ein gutes Beispiel dafür ist der Vortrag von Kai Denker. “Misstraue Autoritäten – fördere Dezentralisierung? Macht und Raum in virtuellen Welten”. Denker ist Dipl. Informatiker, promoviert in Philosophie, hat Poststrukturalisten gelesen und beschäftigt sich mit Machtfragen und der Internet-Raummetapher. Seine historischen, bei Foucault entlehnen Beispiele zeigen, wie in den heutigen Debatten über Netzsperren und Netzneutralität versucht wird, das Internet über Grenzziehungen zu regieren.

Die SIGINT ist die Theoriekonferenz des CCC. Hier werden Diskussionen geführt und Gedanken geordnet. So auch bei Stefan Mertens Input “On Bits and Pieces. How Information and Matter Are Similar”, der sich mit der im CFP formulierten Aussage, die Welt der Atome und die Welt der Bits funktionierten nach vollständig unterschiedlichen Prämissen, auseinander genommen hat. Mertens stellt die Rolle von Produktionsverhältnissen und damit von Gesellschaftlichkeit für materielle und informationelle Güter heraus. Die Frage, wie sich das ebenfalls aus den Produktionsverhältnissen resultierende Prinzip der Nicht-Rivalität (digitale Kopien, Peer-Production) sich auf die Welt der materiellen Güter übertragen ließe, stellte er zum Abschluss des Vortrags, eine Antwort blieb jedoch vorerst aus.

Materialistisch wurde es auch immer wieder in den Vorträgen der monochrom Mitglieder Frank Apunkt Schneider und Johannes Grenzfurthner. Schneider formulierte eine marxistische Kritik des Medienaktivismus. Das war mir zu sehr in einer Hauptwiederspruchslogik verhaftet und reproduzierte letztlich die kapitalistische Erzählung, es gäbe keine Alternative. Aber darum geht es ja: Einerseits müssen wir die gesellschaftlichen Verhältnisse, das System und die Machtverhältnisse bei unseren Analysen und Strategien in Anschlag nehmen. Andererseits aber auch den Blick dafür bewahren, dass sich Dinge verändern können und eben nicht alles gleich bleibt. Dabei wiederum darf aber die Tatsache, dass die Zukunft noch nicht die Gegenwart ist, nicht zum neuen Hauptwiderspruch werden.

Michael Seemanns (mspro) Politik der Plattformneutralität stand im Mittelpunkt der Keynote des Eröffnungstages. Er verbindet eine technische Argumentation und Bildsprache mit Zielen wie Abschaffung von Diskrimierung, Chancengerechtigkeit und dem Bedingungslosen Grundeinkommen, die seiner Beobachtung nach in Netzkultur nahen Kreisen diskutiert werden. Damit stellt sich die Frage, mit welchen gesellschaftlichen Kämpfen sich die Netzbewegung möglicherweise solidarisieren sollte.

Für eine solche Solidarität oder erstmal nur einen Blick über den eigenen Tellerrand ist es meiner Meinung nach wichtig, sich selbst nicht so ernst zu nehmen. Nick Farrs viel diskutierter Vortrag “Yes We Could: Hackers in Government” scheint mir in die falsche Richtung zu gehen. Da ich nicht dabei war, verweise ich auf cupfigthers affirmative Zusammenfassung und die fundierte Kritik bei sophrosynos. Auch Die Zeit berichtet. Die SIGINT mausert sich mit ihrem diskursorientierten Programm zu einer wichtigen Veranstaltung in der netzpolitischen Szene und hatte – wie es sich gehört – auch ihre Genderdebatte. Dazu mehr im nächsten Text.

Postgender in Bingen

Gerade ist der Bundesparteitag der Piratenpartei in Bingen zu Ende gegangen. Mein durch Twitter und ein bis zwei Stunden Livestream am Samstag Abend geprägter Eindruck ist, dass die Piraten inhaltlich kein Stück weiter gekommen sind. Personaldebatten, GO-Anträge und eine Meta-Diskussion über Kernthemen und Programmerweiterungen standen im Vordergrund der als chaotisch wahrgenommenen Veranstaltung. Und was macht unsere alte Freundin, die Genderdebatte?

Leena Simon hat als für den stellvertretenden Parteivorsitz kandidiert. Dass sich außer ihr keine Frau um ein Vorstandsamt beworben hat, war ein Faktor für ihre kurzfristige Entscheidung, den sie auch in ihrer Kandidatinnenrede transparent gemacht hat. Darüber hinaus positionierte sie sich – im Gegensatz zu einigen ihrer Konkurrenten – zu Fragen wie Atomkraft, Bildung, Freie Software, um ihre Arbeitsschwerpunkte und Kompetenzen deutlich zu machen. Im Anschluss antwortete die Kandidatin auf Fragen aus dem Plenum. Die Schlange vor dem Mikrofon war deutlich länger als bei allen anderen Kandidaten und unter den Fragestellenden waren deutlich mehr Frauen. Bis auf wenige Ausnahmen ging es um Leenas Position in der Genderdebatte, um ihr angebliches Fehlverhalten bei der Gründung einer Mailingliste für Piratinnen und der Herausgabe einer Presseerklärung zu diesem Thema. Der Ton war oft wütend und feindselig, Parteimitglieder versuchten Leena mit immer gleichen Fragen danach, ob denn eine Frau zu sein ihrer Meinung nach als Qualifikation für das Amt ausreiche und ob sie noch irgendwelche anderen Themen außer diesem Gender habe, festzunageln. Leenas Reaktionen waren bewundernswert souverän und am Ende sprangen immerhin 28,2 Prozent der Stimmen dabei raus. Ein Ergebnis im Mittelfeld der Kandidaten. Der Parteivorstand der Piratenpartei besteht am Ende von Bingen ausschließlich aus Männern.

Für mich hat dieser Parteitag gezeigt, dass eine Debatte über Geschlechterpolitik bei den Piraten zurzeit sinnlos ist. Da stellen sich Frauen hin und finden allen Ernstes, dass es kein Problem gibt, dass sie in diese Partei eingetreten sind, weil für sie Kategorien keinen Rolle mehr spielen und sie nicht zwischen Männern und Frauen unterscheiden wollen. Schön. Warum ist die Kategorie Geschlecht dann aber doch so wirkmächtig, dass sich keine einzige Frau (außer Leena Simon) findet, die Interesse an einem Vorstandsamt in ihrer Partei hat? Ist das statistischer Zufall, oder hat es doch etwas mit der Gesellschaft zu tun?

Ich glaube gar nicht mal, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus bei den Piraten besonders stark ausgeprägt sind. Es gibt allerdings krasse antifeministische Reflexe, die dann in Sexismen und Bashing abgleiten. Hätte eine Frau kandidiert, die bösen F- und G-Wörter vermieden und den female Postgenderpiraten gegeben, wäre sie vermutlich gewählt worden. Es hat aber keine Frau kandidiert. Wenn die Piraten en gros das nicht problematisch finden … dann sollen sie eben finden. Ich finde dann wiederum, dass die Mehrheit der Piraten und Piratinnen naiv und politisch nicht ernst zu nehmen sind, auch wenn ich beispielsweise Mahas Vorstoß in Sachen Queerpolitik ganz charmant finde. Oder um es mit streamspace zu sagen: “Same old, same old, and far from progressive.

Weitere Analysen findet ihr bei Antje Schrupp, mspro und Nilzenburger.

Über 60 000 Unterschriften für die Hebammen

Das sind mehr als über 9000 und auch mehr als 50 000! Auf dem Gendercamp haben wir uns beim Abendessen darüber unterhalten, wie toll es ist, dass die E-Petition der Hebammen so gut funktioniert. Vielleicht hat die Petition gegen die Netzsperren einen Teil dazu beigetragen, dass diese Möglichkeit, Themen in der Öffentlichkeit zu pushen und dem Bundestag auf die Agenda zu setzen, mittlerweile ziemlich bekannt ist. Ich bin ziemlich sicher, dass Hebammen und Geburtspfleger über viele Kanäle mit den Müttern und Familien, die sie betreuen und betreut haben, vernetzt sind. Die Aktionen gegen die Anhebung der Versicherungsprämie, zusammengefasst auf dem Genderblog, zeigt aber auch mal wieder, dass sich soziale Medien nicht nur bei Themen, für die sich in erster Linie netzaffine Leute interessieren, politisch nutzen lassen. Hebammen für Deutschland ist zwar ein gruseliger Name für eine Kampagne, aber ich wünsche der Aktion trotzdem noch viel Erfolg und viele Unterschriften.

Wikileaks: Zurück zur Relevanz

Wikileaks.org hat gestern ein amerikanisches Militärvideo veröffentlicht, in dem zu sehen ist, wie US Soldaten mehrere zivile, unbewaffnete Iraker töten. collateralmurder.com zeigt heftige Bilder eines asymetrischen Krieges, zu denen hoffentlich viel gesagt und geschrieben wird.

Die Leute von Wikileaks kümmern sich um eine Infrastruktur, die es ermöglicht, Dokumente auf ihre Authentizität zu prüfen und bei höchstem InformatInnenschutz der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dadurch versuchen sie auch, Journalismus zurück zu den relevanten Themen zu bringen. Bisher habe ich jedoch nicht den Eindruck, dass die Veröffentlichung des Videos das ausgelöst hat, was Daniel Schmitt, der zum Kernteam von Wikileaks gehört, in der aktuellen Küchenradio-Folge als Erwartung formuliert hat. Vielleicht wird sich das in Deutschland mit der angekündigen Veröffentlichung von 37 000 internen NDP-Emails ändern? Die amerikanischen Medien habe ich nicht so verfolgt, aber über Twitter laufen seit gestern Abend viele Links zum Thema ein.

Der Podcast mit dem Wikileaks Update von letzter Woche knüpft an eine zurückliegende Folge von Küchenradio mit Daniel Schmitt an, über die ich auch was geschrieben hatte. Beide eignen sich, um etwas über die Hintergründe des Projekts und die aktuellen Entwicklungen zu erfahren. In der neuen Folge geht es unter anderem auch um die Icelandic Modern Media Initiative. Zum gerade veröffentlichen Video hat das kotzende Einhorn einen Post mit Videos und Links, und bei Spreeblick hat sich Simon Columbus ausführlich mit dem Video und einigen Aspekten des asymetrischen Krieges, die darin deutlich werden, beschäftigt.