Ein Lexikoneintrag von Kathrin Ganz, erschienen in: Ulrich Brand, Bettina Lösch, Benjamin Opratko (Hg.) 2012: ABC der Alternativen 2.0 — Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, VSA Verlag, Hamburg, in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Beirat von attac, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der taz. die tageszeitung, S. 124–125.

Der Begriff „Informationelle Selbstbestimmung“ geht auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1983 zurück. Er drückt das Recht aus, grundsätzlich über die Preisgabe und Verwendung eigener personenbezogener Daten zu bestimmen. Im Zuge des Volkszählungsurteils befand das Gericht, dass Personen einschätzen können müssen, welche Informationen über ihr Verhalten gespeichert und vorrätig gehalten werden. Informationelle Selbstbestimmung ist ebenso wie das 25 Jahre später formulierte „Grundrecht auf digitale Intimsphäre“ eine Grundlage individueller Handlungsfreiheit. Statt das Verhalten im vorauseilenden Gehorsam vor der Überwachung durch „Big Brother“ anzupassen soll dem Individuum ein selbstbestimmtes Mitwirken am Gemeinwohl ermöglicht werden.

Die verschärfte Politik der inneren Sicherheit, die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche und das Internet gefährden die informationelle Selbstbestimmung. Staatliche Schnüffelsoftware, die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten und biometrische Ausweisdokumente sind Gegenstand politischer Kämpfe. Konflikte gibt es auch mit Unternehmen, die ihre Mitarbeiter_innen ausspähen oder deren Geschäftsmodell darauf basiert, umfangreiche Datensätze ihrer Kund_innen anzulegen. Neben Alter oder Geschlecht lassen sich etwa Freundesnetzwerke, die Inhalte von Emails und das Surf- und Suchverhalten für zielgenaue Werbung oder zur Überprüfung der Kreditwürdigkeit auswerten. Besonders bedroht ist die informationelle Selbstbestimmung schließlich, wenn staatliche Behörden auf die Datenbestände privater Unternehmen zugreifen können.

Diskretion und Datenschutz gelten allgemein als Mittel der Wahl, um die informationelle Selbstbestimmung zu verteidigen. Es wird jedoch zunehmend in Frage gestellt, ob sie im digitalen Zeitalter noch wirksam sind. Wenn ein Großteil der Kommunikation in digitalisierter Form durchgeführt wird, Smartphones mit Sensoren ausgerüstet sind und verbesserte Verknüpfungsalgorithmen die Konnektivität der Daten steigern, könne niemand mehr kontrollieren, welche Informationen sich in Zukunft aus den Daten von heute generieren lassen.

Daran anschließend entzündet sich eine über die Internetöffentlichkeit hinaus wahrgenommene Debatte um die normative Bewertung dieses Kontrollverlustes. VertreterInnen der „Post-Privacy“-Utopie kritisieren den Datenschutz dafür, Daten als knappes Gut und Privateigentum zu betrachten und damit auf Verknappung und Kontrolle von Information zu setzen. Neben technischen und juristischen Strategien setze er auf eine strenge Datenschutzmoral, die den Zwang zur Konformität fördere und Individualität und Non-Konformativität in den Bereich der Privatsphäre verbanne. Die gesellschaftliche Funktion der Privatsphäre wird von „Post-Privacy“ grundsätzlich in Frage gestellt. Dagegen wird der freie Fluss der Informationen gefordert, der identititäre Einengung und die Idee des planbaren Menschen ins Wanken bringe. Diskriminierung werde so der Boden unter den Füßen weggezogen.

Post-Privacy steht für eine technikdeterministisch begründete Transformation bürgerlich-liberaler Identitätslogik, verfängt sich dabei aber in futuristischen Vorstellungen einer post-humanitären Gesellschaft oder verbündet sich mit Interessen, die Datenschutz in erster Linie als Innovationshemmnis und Standortnachteil begreifen. Offen bleibt, unter welchen Bedingungen die Freisetzung der Datenströme in kapitalistischen und von Dominanzverhältnissen geprägten Gesellschaften zu emanzipativen Effekten führen kann. Diskriminierung wird zwar mitgedacht, ihr wird aber einseitig mit der Strategie des „Outing“ begegnet, für die Marginalisierte die Verantwortung tragen und möglicherweise Sanktionen hinnehmen müssen. Dass die Fähigkeit zur Datenkontrolle genauso wie die Ressourcen, die zur Auswertung von Daten nötig sind, ungleich verteilt sind, wird dabei nicht systematisch in Betracht gezogen.

Es hilft jedoch auch nicht weiter, sich in paternalistischem Technikskeptizismus zu üben und dabei staatliche Grundrechtseinschnitte mit dem Verweis auf freiwillig angelegte Internet-Profile zu relativieren. Es muss stattdessen um die Frage gehen, unter welchen Bedingungen Menschen selbstbestimmt mit ihren Daten umgehen können. Neben einem Recht auf Anonymität und Pseudonyme, Verschlüsselung und Open Source geht es dabei vor allem auch um das dafür notwendige Wissen und die Gestaltung zugänglicher Tools. Software sollte so gestaltet werden, dass NutzerInnen einschätzen können, was mit ihren Daten passiert. Behörden und Unternehmen müssen dazu gebracht werden, ihre eigenen Praxen transparent und nachvollziehbar zu machen. Das, was mit unseren Daten passiert, muss in vielerlei Hinsicht erst einmal besprechbar werden. Informationelle Selbstbestimmung heißt heute, Privacy als Praxis neu zu erfinden.

Literatur:
Heller, Christian (2011): Post Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre. München, C.H. Beck
Kurz, Constanze/Rieger, Frank (2011): Die Datenfresser: Wie Internetfirmen und der Staat sich unsere persönlichen Daten einverleiben und wie wir die Kontrolle darüber zurückerlangen. Frankfurt/Main, S. Fischer.

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