Erststimme

Bald ist wieder Bundestagswahl. In der aktuellen parteipolitischen Lage ist das für mich und viele in meinem Umfeld ein schwieriges Thema. Die SPD und die Grünen haben es sich lange verscherzt (Hartz 4, Netzsperren, die Koalition mit der von Beust-CDU in Hamburg), Schwarz-Gelb ist eine Horrorvorstellung, die Linke findet auch niemand uneingeschränkt gut und ein linkes Bündnis scheint ohnehin nicht in Sicht. Es wird wieder viel über strategisches Wählen geredet, über kleinere Übel, den Sinn und Unsinn von Kleinstparteien und Wahlkämpfe für oder gegen bestimmte Personen. In Diskussionen mit Freund_innen ist mir aufgefallen, dass die Sache mit den Erst- und Zweitstimmen manchen unklar ist, und weil ich in den nächsten Wochen vielleicht ein bisschen über die Wahlen schreiben werden, gibt es zunächst einmal einen kleinen Servicetext zur Auffrischung.

Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag haben alle Wähler_innen eine Erst- und eine Zweitstimme zu vergeben. Mit der Zweitstimme wird nach dem Verhältnisprinzip die Sitzverteilung im Bundestag bestimmt, d.h., wie viele Abgeordnete eine Partei stellt. Um welche Personen es sich dabei handelt, entscheiden die Parteien durch die Aufstellung von Landeslisten. Mit der Erststimme wird ein_e Direktkandidat_in für den Wahlkreis gewählt. Hier gilt das Prinzip der relativen Mehrheit (the winner takes it all). Hat beispielsweise eine Kandidatin 30 Prozent der Stimmen enthalten, drei andere Kandidaten haben jeweils 20 Prozent und eine fünfte Kandidatin hat 10 Prozent, so zieht die Kandidatin mit den 30 Prozent in den Bundestag ein.

Die Erststimme bestimmt also im Gegensatz zur Zweitstimme “nicht direkt die Stärke einer Fraktion, sondern tauscht nur einen Kandidaten von der Liste gegen den derzeitigen Wahlkreiskandidaten. Wenn mehr Kandidaten einer Partei durch die Erststimme in das Parlament gewählt werden, als der Partei prozentual durch die Zweitstimmen zustünden, entstehen zusätzliche Mandate, die Überhangmandate” (wikipedia). Das mit den Überhangmandate ist ein spannendes Thema für Wahlnerds – dazu empfehle ich Chaosradio Express 128 über Wahlrecht und Wahlsysteme.

Aber lassen wir die Überhangmandate mal außen vor und schauen uns an, welche Rolle die Erststimme für den oder die Wähler_in spielt:

Schon im Politikunterricht in der Schule wurde davor gewarnt, die Erststimme zu verschenken: In den allermeisten Wahlkreisen stellen die SPD und die CDU bzw. CSU die Direktkandidaten, weil sie als so genannte Volksparteien bei einer relativen Mehrheitswahl einfach die besten Chancen haben. Das wirkt sich, wenn wir die Überhangmandate an dieser Stelle ignorieren, nicht auf die Sitzverteilung im Bundestag und damit auf die Chancen zur Regierungsbildung aus, da diese ja über die Zweitstimme entschieden werden. Insofern ist es meiner Meinung nach auch keine große Schande, dem Prinzip des Stimme-Nicht-Verschenken-Wollens zu folgen und sich für die Direktkandidatur der CDU oder SPD zu entscheiden. Und vielleicht lässt sich ja auch innerhalb dieses Systems durch gezieltes, strategisches Wählen etwas machen …

Die Direktkandidaten der Parteien sind zum Teil auf der Landesliste auf aussichtsreichen oberen Plätzen vertreten – sie kommen also wahrscheinlich sowieso in den Bundestag. Manche Direktkandidat_innen verzichten darauf, weil sie ziemlich sicher sein können, dass sie über die Erststimme in den Bundestag einziehen (man denke an den klassischen CSU Kandidaten in einem ländlichen bayrischen Wahlkreis). Wenn sich genügend Wähler_innen aber dagegen entscheiden, das Erststimmenkreuz bei dieser Person zu machen, wird es leider nichts mit dem Bundestag.

Aussichtslose Direktkandidat_innen, die keinen Platz auf der Landesliste haben, sind vermutlich solche, die innerhalb ihrer Partei noch nicht die für ein Bundestagsmandat in Frage kommen, oder sie sind Landespolitiker_innen, die ihre Bekanntheit im Bundeswahlkampf für ihre Partei nutzen wollen. Wählen die Wähler_innen aber überraschenderweise nicht die als aussichtsreich geltende Person in einem Wahlkreis, kann es sein, dass solche Direktkandidaturen erfolgreich sind. So könnte etwa ein junger, unbekannter CDU Kandidat in einem klassischen SPD Wahlkreis gewinnen, wenn sich viele Wähler_innen vom SPD Mann abwenden und ihre Erststimme nicht an diesen vergeben.

4 comments

  1. stadtpiratin says:

    ein echt mal informativer wahlaufklärungsbeitrag. irgendwie sollten und müssen wir uns alle damit auseinandersetzen, und zwar bald, so wie das eben immer ist alle vier jahre, man muss ja alle möglichkeiten ergreifen, bewusst mal irgendwo ein kreuz zu machen. und wirklich interessant zu lesen – die details waren mir manchmal auch nicht ganz präsent, obwohl ich am anfang des textes nicht erwartet hätte, dass mir das beim weiterlesen so gehen würde. also, ein ordentliches kompliment, für deine seite insgesamt, die ich heute mal eben in meine blogroll aufgenommen habe, gefällt mir sehr gut, deine themenvielfalt. sofern das auf gegenseitigkeit beruht, freue ich mich natürlich sehr über nen nachträglichen linktausch. viele grüße
    eva.ricarda

  2. tba says:

    tut mir leid, aber ich kann mich dem lob nicht anschließen. habe kein wort verstanden. aber das liegt wohl nicht am text, sondern daran, dass das wahlsystem so kompliziert ist. man könnte sich ja mal fragen, ob das so sein muss!

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